Hier lest ihr den 2. Platz unseres Schreibwettbewerbs zum Thema ,,Weihnachts(alb)traum“: Die Weihnachtshexe von Cecille Grossert.
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Der Winter in Kallenhardt ist in diesem Jahr besonders kalt und düster. Der bittere Wind zieht durch die leergefegten Straßen. Lediglich durch die beschlagenen Fenster entdeckt man das ein oder andere Gesicht. Es scheint das einzige Lebenszeichen der westfälischen Stadt zu sein.
Es ist jedoch nicht die beißende Kälte, welche für den Rückhalt des Volkes in ihrer Wohnstube sorgt. Bereits seit den frühen Tagen des Dezembers klagen die Kinder, selbst manch Erwachsener, von Albträumen. Die unterbrochene Stille der Nacht durch die verängstigten Schreie der Kinder erscheint fast alltäglich. Die Freude, die der Advent doch eigentlich mit sich bringe, ist völlig erloschen. Keine Umzüge, keine Märkte, die Menschen haben sogar Bange, das Haus Gottes zu besuchen. Der Teufel könnte an jeder Ecke lauern.
Das Leiden können sich die Menschen Kallenhardts nur mit dessen Werk erklären. Wer würde sonst die unschuldigen Kinder angreifen, wenn nicht eine Hexe unter des Teufels Hand? Eine Hexe ist den Menschen hier nicht unbekannt.
Der Richter ist ebenso wenig überrascht, als er die Anklage gegen die jüngste Entsleit erhält – die Familie Entseleit steht schon seit Jahren unter Verdacht der Hexerei. Dorothea Entseleit ist dabei ohne Zweifel die Auffälligste. Unverheiratet, feurig rote Locken und ein besorgniserregend tiefgründiges Wissen über Kräuter. Das macht doch eine Hexe aus. Für den Richter zumindest.
Er kann sich vorstellen, wie sie angespannt im Keller des Rathauses sitzt und sich einen teuflischen Plan überlegt, um sich zu befreien. Der Richter wiederrum scheint ganz euphorisch. Die Hexe würde endlich dort landen, wo sie hingehöre: auf den Scheiterhaufen.
Die Aufregung des Richters ist ihm anzusehen. Zittrige Hände und tiefe Schatten unter den Augen erzählen den Zuschauern im Gerichtssaal, wie ihn seine Nervosität wachhielt. Den Zuschauern ergeht es ähnlich, Hexenprozesse wenige Tage vor Heiligabend sind außergewöhnlich.
Die Angeklagte hingegen sitzt ruhig dem Richter gegenüber. Man könnte sie mit einer Statue verwechseln, würde sie nicht in geringem Zeitabstand blinzeln. Nicht einmal die Kälte im Saal kann ihre Aufrechte Haltung krümmen.
Energisch steht der Richter auf und erklärt den Prozess für eröffnet. “Die hier anwesende Dorothea Entselteit wird der Hexerei beschuldigt”, sagt er, eifrig über seine Worte stolpernd. Ihm scheint die ein oder andere Formalität zu entfallen, “Mit der Hilfe des
Teufels verteilt sie die verseuchten Flaschen an die Kinder, um ihm Zugang in deren Träume zu gewähren. Er versucht, die Kinder von seiner absurden Weltanschauung zu überzeugen und sie in die Hölle zu locken. Ein feiner Herr hatte das Vergnügen, oder eher Unvergnügen, die junge Dame zu beobachten, wie sie einem kleinen Jungen ein solch Fläschchen in der Nacht des 4. Advents übergab. Laut Bericht war sie weder in Begleitung, noch war sie geeignet für die Eiseskälte gekleidet. Und als wäre dies nicht bereits auffällig, so klagte der arme Junge noch zur selben Nacht von schrecklichen Albträumen, wie seine Eltern mir mitteilten.” Er beobachtet die gleichgültige Miene der jungen Frau vor ihm. “Nicht wahr, Fräulein Entseleit?”
Langsam hebt sich ihr Blick in die Richtung seiner Augen. Sie schüttelt ihren Kopf.
“So sagen Sie, was befindet sich sonst in ihren Fläschchen? Das waren doch Ihre?”
Ein Räuspern zieht durch den Saal, als sie aufsteht. Ihr Rockzipfel bleibt während ihrer Bewegung an einem Tannenzweig hängen. “In den Flaschen, ebenso das, welches ich dem Junge übergab, befinden sich die Kochkräuter meiner Mutter” ,spricht sie.
“Kochkräuter?”, fragt der Richter skeptisch, “Ihre Familie scheint sich ja hervorragend mit Kräutern auszukennen. Das erscheint mir als ziemlich nützliches Wissen für eine Hexe, meinen Sie nicht? Wofür waren denn diese Kochkräuter vorgesehen?”
Verwirrt zieht die Angeklagte ihre Augenbrauen zusammen, “Zum Kochen. Für was sollte man Kochkräuter sonst verwenden?”
“Ihre Schnippischkeit spricht nicht besonders für ihr Unschuld”, entgegnet der Richter, “Also, was tat der arme Junge, dass sie ihn verteufeln mussten? Oder machen Sie das alles nur zu Ihrem Vergnügen?”
Der Saal bleibt still. Die Angeklagte zieht an einem Faden ihres Ärmels. Der Richter fragt weiter: “Was tat das Kind, dass Sie ohne Begleitung im Schutze der Nacht das Kind überfielen?”
“Ich verriet Ihnen bereits, was mich in die kalte Winternacht trieb: der Junge hatte die Aufgabe, die Kräuter meiner Mutter entgegen zu nehmen. Ich stand nicht in dem Wissen, dass er sie entgegennehmen wird. Ich vermute, sie waren angedacht für das gemeinschaftliche Weihnachtsmahl. Ich bin eben für solch Lieferungen zuständig.”
“Also ist dies nicht Ihr einziges Opfer?”
“Ich wiederhole: ich beliefere die Menschen hier mit Kräutern. Ihre Behauptung steht nicht in Verbindung mit meiner Aussage.”
“Sie streiten es also nicht ab?”
Mit einem tiefen Atemzug setzt sich die Angeklagte wieder. Sie beobachtet den Nebel, der ihr dabei aus dem Mund strömt. Der Richter führt fort: ”Vor sich sehen Sie ein
interessantes Gerät, die Daumenschraube. Sie ist ein Teil der, was wir als Peinliche Befragung bezeichnen. Ihre Daumen werden hier dazwischen gelegt und festgezogen, bis sie völlig zerdrückt wurden. Wir besitzen auch eine Streckbank für diesen Teil des Prozesses, aber ich bin heute in so einer heiteren Weihnachtsstimmung, da erbarme ich Sie mit dem kleinen Daumenschräubchen.”
Das kleine Daumenschräubchen ist, trotz Erbarmung, keine angenehme Erfahrung. Je fester die Schraube gezogen wird, desto stärker muss die Angeklagte ihre Zähne zusammenbeißen, um sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Sie würde am liebsten losschreien, solange bis auch der letzte im Raum ihr glauben würde. Doch sie schweigt. Jede ihrer Aussagen würde der Narrative des Richters zurechtgeschnitten werden. Sie muss ihre Unschuld anders beweisen. Also sie sieht auf den Baum in der Ecke, bis sie ihr endlich das Folterwerkzeug abnehmen. Es ist das erste Jahr, in welchem sie diese Dekoration aufgestellt haben. Die Kinder hängen regelmäßig neue Äpfel und Nüsse daran. Die neue Tradition lenkt sie von ihren Albträumen ab.
Sie schenkt dem Richter wieder ihre Aufmerksamkeit, er spricht von Hexenproben, diese müssen ihre Unschuld beweisen. “Die Tränenprobe ist verlässlicher als jede Aussage”, sagt er, “Also sehen sie mir in die Augen. Und weinen! Das einzige, was sie machen müssen, ist weinen. Ein Tränchen und sie haben ihre Unschuld bewiesen. Na los!”
Sie versucht es. Sie versucht es mit all übriger Kraft, die sie trotz ihrer Erschöpfung auffinden kann. Ihre Hand ist mittlerweile vollständig taub. Sie spürt nicht einmal mehr den kühlen Wind, welcher über die Menge im Gerichtssaal zieht. Also denkt sie an ihr bevorstehendes Ende. Das Leid, welches sie ihrer Familie mit ihrem Tod anrichten würde. Sie konzentriert sich auf ihre Mutter, ihre Geschwister, geplagt vom Verlust ihrer Tochter, ihrer Schwester. Für sie sammelt die Angeklagte ein letztes Mal alle Kraft. Eine Träne und sie kehrt zurück zu ihnen.
Doch ihre Wangen bleiben trocken. Sie sehnt sich nur noch nach Erlösung. Ihre Hoffnung erloschen durch ihre Tränen. Ihre Schuld bewiesen. Das Urteil steht: Dorothea Entseleit ist eine Hexe. Also beichtet sie die Verbrechen.
Der Wind weht über ihren schwachen Körper, als sie am Pfahl festgebunden wird. Sie sieht in die schaulustige Menge. Eine Bescherung nennen sie es. Ein Weihnachtswunder, dass die Menschen an Heiligabend von der Hexe befreit werden.
Die Hexe jedoch weiß, dass auch nach ihrem Tod die Kinder noch über Albträume klagen werden. Die Bürger werden sich in der Stadt versammeln, ihr Urteil hinterfragen. Die Schwere ihrer Entscheidung wird sie in ihren Albträumen verfolgen, bis hin zum nächsten eiskalten Weihnachtsfest.
Die Unschuldige am Pfahl kann immerhin von einem warmen Fest berichten.